Alle Vögel sind schon weg. Etwas verspätet ziehen nun auch wir gen Süden, genaugenommen Alle Vögel sind schon weg. Etwas verspätet ziehen nun auch wir gen Süden, genaugenommen Südostost. Erster Stopp Singapur, dann geht es weiter nach Bali. Nach dem vollen Dezemberprogramm mit den unglaublichen Mengen an Süßigkeiten und anderen Leckereien, die wir genüsslich zu Glühwein und Whiskey verschlungen haben, klingt Winterschlaf äußerst verlockend, doch dafür haben wir nicht vorgesorgt und daher keine kuschelige Höhle, in die wir uns verkriechen könnten.

Überwintern in den Tropen

Foto zu Abschied und Aufbruch: Nicki glücklich in der Sonne in Singapur. Reisen umzu (er)leben.

Stattdessen verlegen wir unseren Aufenthaltsort in die Tropen. Wir sehen das nicht so sehr als Reise, sondern vielmehr als mobiles Lebenskonzept. Wohnen auf Zeit trifft es vielleicht ganz gut. Leider haben wir dafür kein Wohnmobil oder Hausboot, sondern schleppen unser Hab und Gut in drei überdimensionierten Koffern sowie großzügig ausgelegtem Handgepäck herum. Wenn wir erst einmal unsere Tauchausrüstungen und Kamerasysteme mit Unterwassergehäusen, Lampen und Blitzen sowie den Armen, Klemmen, Batterien und allem anderen Zubehör, welches wir zum Überleben unter Wasser brauchen, eingepackt haben, kommen dazu noch Laptops, Festplatten sowie jede Menge Kabel und Ladegeräte. Der Weg ist damit definitiv nicht das Ziel. Zum Glück ist in den Tropen weniger Kleidung nötig, sonst wäre das große Puzzeln, was mich in den letzten Tagen auf Trab gehalten hat, nicht aufgegangen.

Reisen und packen

In vielen Bereichen habe ich sehr von Yoeris Lebenseinstellung profitieren können, gemeinsam sehen wir den Dingen wesentlich gelassener entgegen. Ich schaue ohnehin am liebsten, wie sich etwas anfühlt, bevor ich handle und das im Zweifelsfall auch ohne ausgefeilten Plan. Meinem Bauchgefühl oder spontanen Eingebungen folgend ergeben Dinge, die mir vorher gar nicht in den Sinn gekommen sind. Grundlegendes Vertrauen in das eigene Leben ist eine wundervolle Sache, doch im Vorfeld eines längeren Auslandsaufenthalts mache ich mir Listen um zu sehen, was noch zu tun und zu besorgen ist. Denn ich finde es beruhigend zu wissen, dass wir beide alles dabei haben, was wir so benötigen, auch wenn das weitaus mehr ist, als uns lieb ist.

Yoeri hat über die Jahre eine vollkommen andere Strategie entwickelt, die am besten, wie folgt, beschrieben werden kann: Abwarten und Kaffee trinken und wenn das nicht mehr geht, Augen zu und durch, wobei er die Energie für diese Hauruckaktion durch möglichst viel Wut im Bauch zu generieren scheint. Da mich das Gefühl bei der Sache ebenso wenig überzeugt hat wie das Resultat, habe ich nach und nach beim Packen die Führung übernommen. Dieses Mal habe ich ihn – nicht ohne Gegenwehr – dazu getrieben, wenigstens drei Tage vorher alles raus zulegen, damit wir eine Chance haben, unsere Sachen ausgewogen mit je 23 kg in den drei Koffern unterzubringen oder eben noch zusätzliches Gepäck vor dem Abflug dazu buchen zu können.

Doch mit solchen Erklärungen erreiche ich nur, dass sich Yoeri darüber aufregt, dass früher das Reisen so viel besser war. Damals hätte er schließlich mit 30 kg um die Welt reisen können. Ich verkneife mir die Bemerkung, dass dies für unseren Hausstand ja noch immer nicht ausreichen würde, während er fortfährt, dass er zu der Zeit noch alles in einem Rucksack unterbringen konnte und daher seine Methode des Packens in letzter Minute total ausreichend war. Wenn er doch nur die nicht genutzten Kilos all dieser Jahre hätte ansparen können, so dass wir sie jetzt verbraten könnten, denke ich mir im Stillen und stelle danach meine Ohren auf Durchzug, um ihn nicht schreiend um Vernunft bitten zu müssen.

Flug mit Hindernissen

Sind die Reisevorbereitungen einmal überstanden, wartet noch der Flug selbst auf uns. Da schließe ich mich Yoeris Haltung an und wünsche mir einfach nur, dass das alles schnell und einigermaßen schmerzlos vergeht. Regelmäßig gibt es das vegetarische Essen, welches ich bei der Buchung angegeben habe, leider nicht in den Listen des Flugs, und mir wird ein ums andere Mal erklärt, dass ich das doch bei der Buchung hätte angeben können. Ernsthaft, was läuft da falsch in den Datenbanken der Fluggesellschaften?! Von Amsterdam nach Singapur bekam ich mein vegetarisches Essen, auf dem Flug von Singapur nach Denpasar jedoch nicht.

Denkt KLM, dass ich ausgerechnet in Singapur, einem Paradies für Vegetarier zum Fleischesser mutiert bin? Zum Glück hat Yoeri für mich einen Ersatz und zudem viel Rotwein besorgt. Ihm ist hingegen nicht zu helfen, denn die Zeiten, in denen wir noch am Check-In für einen Platz mit extra viel Beinfreiheit für Yoeri fragen konnten, sind schlicht vorbei. Nur ein paar Jahre zurück hat das eigentlich noch ganz gut geklappt. Dann wurden diese Plätze vermehrt an Flugreisende mit Babys vergeben und jetzt werden sie zu Aufpreisen bei der Buchung oder dem Online-Check-In feilgeboten. Wir haben ganz ohne Zuschläge eingecheckt und durften uns somit glücklich schätzen, nebeneinander zu sitzen, in der Mitte des Fliegers versteht sich, wobei der Reiz aus dem Fenster zu schauen, über die Jahre eindeutig abgenommen hat.

Mein erster Flug

Mein allererster Flug war 1999 nach Ägypten. Da saßen wir noch hinten im Flieger auf den Raucherbänken! Ich war begeistert, nicht nur vom Fliegen über den Wolken, sondern auch von der Welt unter den Wellen, die ich leider nur von oben bestaunen konnte. Ein Jahr später flog ich nach Chile. Geraucht wurde nicht mehr und diesmal war ich allein unterwegs. Ich hatte lange nach einer Praktikumsstelle im sozialen Bereich in Lateinamerika gesucht, für die ich nicht etwa selbst bezahlen musste, sondern wenigstens Kost und Logis bekam (Auf, auf in die Welt hinaus: Ideen für Suchende). Da ich für meine erste große Liebe auf einen Auslandsaufenthalt in der 11. Klasse verzichtet hatte, obwohl mein Vater sogar versuchte, mir das Ganze mit Australien oder Indonesien schmackhaft zu machen, hatte der darauf folgende Partner keine Chance mich von meinem Entschluss abzubringen.

Aufbruch und Abschied zum Ersten

Trotzdem weinte ich auf dem Flug von Frankfurt nach Madrid in durchgehend, was die Stewardessen beunruhigte. Irgendwann hatte ich mich soweit gefangen, dass ich ihnen erklären konnte, dass ich nun für Monate weg war und mich meine Mutter, mein Freund und mehrere Freundinnen am Flughafen nicht nur mit kleinen Geschenken sondern auch einem selbst gedichteten Lied verabschiedet hatten. Es war total rührend und hat mir den Abschied unfassbar schwer gemacht.

In Madrid musste ich umsteigen und der anschließende Flug landete erst in Buenos Aires, als müsse er sich für die Andenüberquerung noch einmal Mut zusprechen. Bis Santiago de Chile war ich jedenfalls bereits um die 24 Stunden unterwegs. Neben mir saß ein chilenischer Geschäftsmann, der sich sehr darüber freute, dass ich mit Straßenkindern arbeiten wollte. Eigentlich konnte er kaum glauben, dass mir meine Eltern das erlaubten, so weit weg von Zuhause und dann auch noch ganz alleine unterwegs. Stolz schwellte meine Brust, in der noch ein dumpfer Abschiedsschmerz hallte, und feuerte die Vorfreude auf die Stadt am Pazifik mit dem Hochplateau und der Atacamawüste im Rücken zusätzlich an.

Bruder Paul von der Fundación würde mich am Flughafen abholen, denn er hatte ohnehin in der Hauptstadt zu tun, um mich in den Bus nach Norden zu setzen. Ich folgte meinem Herzen, ich war frei, ich war glücklich. Entspannt schlief ich irgendwann ein. Als ich in Santiago in die Ankunftshalle trat, konnte ich den Mann mit den weißen Haaren und dem Rauschebart, von dem ich ein schwarz-weiß Foto per Fax erhalten hatte, zunächst nirgends entdecken. So stellte ich mich an die Seite und wartete. Und wartete. Und wartete. Kein Bruder Paul. Die Menschenmassen verflüchtigten sich und erste Zweifel kamen in mir auf. Ich hatte weder die Adresse noch die Telefonnummer in Iquique oder in Santiago bei mir und auch keine Ahnung, wo der Busbahnhof war oder wie ich dahin kommen sollte.

Zum Glück wollte der freundliche Herr aus dem Flieger sichergehen, dass ich in guten Händen war und so begann er für mich herumzutelefonieren. Er fand nicht nur heraus, wo Bruder Paul übernachtete, sondern brachte mich höchstpersönlich mit dem Taxi dorthin. Ich glaube, er hielt den Nonnen vor Ort eine Standpauke, aber damals verstand ich noch nicht genug Spanisch und vor allem nicht das der Chilenen, die Sätze wie Maschinengewehrsalven abfeuern. Während ein Wort nahtlos in das nächste übergeht, werden alle Endungen gewissenhaft verschluckt. Mir war es egal, ich war einfach nur dankbar.

Reise in ein neues Leben

Nach einem kleinen Snack und kurzen Nickerchen ging es zum Bus und darin weitere 24 Stunden auf der Panamericana immer Richtung Norden. Zur Linken glitzerte verlockend das Meer, die Vegetation nahm immer weiter ab. Es war berauschend. Ich befand mich auf dem Weg ins Ungewisse, erfüllt von dem Wunsch, Gutes zu tun und in der Hoffnung auf ein anderes Leben. Mit dem Minenarbeiter im Sitz neben mir tauschte ich mich über kleine Einträge und Zeichnungen in mein Notizbuch ganz passabel über unsere Herkunft und unser Reiseziel aus. 

Er war ein paar Jahre älter als ich, braun gebrannt mit dunklem Haar, und sah dem monatelangen Arbeitsaufenthalt in der Atacamawüste nicht besonders freudig entgegen. Im Bus saß ich am Fenster und als ich nachts den sagenhaften Sternenhimmel betrachtete, kamen mir die Tränen, so überwältigt war ich von meiner Ankunft auf einem neuen Kontinent. Daraufhin nahm mich mein chilenischer Banknachbar in den Arm, so dass wir beide glücklich einschliefen.

In Iquique angekommen, fühlte es sich fast schon vertraut an. Niemand da, um mich abzuholen. Nun hatte ich zwar eine Telefonnummer, doch war weit und breit war kein Telefon in Sicht. Nach kurzer Zeit schloss der Busbahnhof seine Pforten und so stand ich etwas verloren am Straßenrand. Langsam wurde es dunkel. Hin und wieder warten mich Passanten davor, hier so lange rumzustehen. Es wäre nicht sicher, vor allem nicht für mich.

Ein paar Wochen später wurde mir von einem weiteren besorgten Bürger erklärt, ich müsste aufpassen, da ich ja so wunderschönes blondes Haar und blasse Haut hatte, würden mich alle Menschen hier mit dunklerer Hautfarbe beneiden. Insgeheim wüssten sie, dass ich besser sei und würden mir deshalb schaden wollen. Er sagte wirklich, dass ich besser sei, nicht, dass ich es besser oder einfacher hätte, was ja stimmte, obwohl ich nicht die Erfahrung machte, dass sich die Chilenen deshalb an mir rächen wollten. Der ältere Herr hatte selbst sein Leben lang sehr darauf geachtet, seine Haut nicht der Sonne preiszugeben.

Doch zu dem Zeitpunkt hatte ich viel zu viel Freude in mir, um mir Sorgen zu machen. Es würde sich schon noch jemand daran erinnern, dass ich ankommen sollte. Und so wartete ich. Und wartete. Irgendwann brauste ein Bulli um die Ecke und ich wurde ohne viel Aufhebens mit Sack und Pack ins Innere verfrachtet und zur Fundación gefahren.

Reisen und leben

Diese Odyssee hat mich nicht nachhaltig vom Reisen in ferne Länder abgebracht, sondern ganz im Gegenteil, meinen Wunsch auf ein anderes Leben eher bestärkt. Sicherlich hatte ich viel zu viele Sachen dabei, habe aber im Laufe der folgenden Reisen gelernt, mein Gepäck immer weiter zu reduzieren – bis ich zu tauchen begann. Dafür zog ich 2011, zum ersten Mal wieder ganz alleine, los. Diesmal hatte ich allerdings die Adresse der Nicht-Regierungsorganisation (NGO), bei der ich in den ersten Tagen unterkommen wollte und mittlerweile auch ein Handy, das selbst auf den Philippinen funktionierte. Anschließend traf ich Yoeri und seitdem haben Abschied und Aufbruch ganz neue Dimensionen angenommen (Endlich richtig abtauchen).

Zum Glück konnte ich in den Jahren, in denen ich in Berlin erst studiert und dann gearbeitet habe, eine gewisse Routine im Abschiednehmen entwickeln. Damit es mir nicht so schwer fällt, versuche ich jeden Abschied als ein ganz normales bis zum nächsten Mal zu tarnen. Was im Grunde genommen ja auch den Tatsachen entspricht. Die Frage ist eben, wie lange es bis zum nächsten Mal dauert.

Von Berlin bin ich sicher mindestens dreimal im Jahr in die alte Heimat gefahren und manche Freunde und Familienmitglieder haben mich ihrerseits mehr oder weniger regelmäßig besucht. Doch im Endeffekt macht es mittlerweile keinen ungeheuren Unterschied, ob wir nun in Berlin oder auf Bali sind. Solange es Internet gibt, kann die Sehnsucht relativ leicht befriedigt werden, auch wenn sich einige Menschen noch immer mit Alternativen zum klassischen Telefongespräch schwer tun, während sich andere partout die Zeitverschiebung nicht merken können. Zum Glück ist man dafür die ganze Zeit online.

Heimspiel

Für mich war aufschlussreich, dass der Kontakt mit einigen Freunden auch in den Monaten, in denen ich 2019 im Lande war, nicht wesentlich intensiver wurde. Natürlich kam, wer konnte, zu Geburtstagen und Hochzeitsfeier, aber jenseits der großen Momente zu denen geladen wurde, gab es nicht immer die Initiative, sich einfach mal zu verabreden oder etwas Nettes zu unternehmen, wie es so schön heißt. Das ist doch, was uns auf einsamen Inseln fehlt, der direkte physische Kontakt, zusammen sein und den Moment zu teilen.

Ich weiß nicht, ob Menschen so sehr ihrem Alltagstrott folgen, dass sie nicht registrieren, dass sie sich ganz einfach melden könnten oder ob sie meinen, dass der Kontakt bitte von mir ausgehen sollte, da ich schließlich diejenige bin, die sonst aus der Welt ist. Vielleicht haben sie auch einfach gar keine Zeit mehr, um zu telefonieren oder sich zu treffen. Wobei wir im Grunde genommen alle gleich viel Zeit haben, die Frage ist nur, wofür wir sie uns nehmen.

Der jüngste Aufbruch und Abschied

In diesem Sinne freuen wir uns über alle, die sich die Zeit für uns genommen haben und sind dankbar für all die schönen Aktivitäten und Erfahrungen, die wir in unseren Gastspielen während unserer Tour de Europe 2019 machen durften. Bei einigen Begegnungen mit Freunden im Dezember war nicht ganz klar, ob wir uns vielleicht noch einmal vor unserem Abflug sehen würden, was das Abschiednehmen auf ein erträgliches Maß entschärft hat. Der Rest verteilte sich glücklicherweise. Ich war jedes Mal unglaublich froh, wenn es nicht viele Menschen auf einmal waren und noch mehr, dass niemand gesungen hat, denn mir sind auch so schon immer mal wieder die Tränen gekommen.

Der allerletzte Abschied war am Bahnhof in Assen von Yoeris Eltern. Wir hatten es gerade so geschafft, all unser Gepäck hinten im Kofferraum unterzubringen. Im Auto herrschte gelöste Stimmung, schließlich waren wir uns einig, dass wir eine großartige Zeit miteinander verbracht hatten und wir uns ja relativ bald wiedersehen würden. In diesem Moment gewann die Vorfreude endgültig die Oberhand und all die wundervollen Erlebnisse verwandelten sich in noch wundervollere Erinnerungen. Wenn Abschied in Aufbruch umschlägt, schafft er Raum für Neues.

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